Leseprobe
Ich bin der Mutterbaum – Sylvá Noréa – die Seele des Waldes. Tief in meinen uralten Wurzeln ruht die Erinnerung an längst vergangene Epochen. Mein Licht hat die Dunkelheit durchdrungen, meine Kraft hat die Erde genährt. Seit Jahrtausenden verharre ich hier, ein stiller Zeuge des Lebens, das in diesem Wald gedeiht, und der Geschichten, die der Wind durch die rauschenden Blätter flüstert. Doch heute ist alles anders. Eine bedrückende Schwere liegt in der Luft, und mein Innerstes erzittert.
Die Gefahren dieser Nacht wirken wie lebendige Schatten – schwer und hungrig. Sie dringen tiefer, als ich sie fassen kann. Der Wald ist angespannt, ein Raunen zieht durch ihn, als ob er ahnt, dass etwas Unausweichliches bevorsteht. Ich spüre die Kämpfe in der Ferne, das verzweifelte Ringen gegen eine Macht, die alles bedroht – die Menschen, die Tiere, den Wald… und mich.
Dann spüre ich ihn. Eldon. Seine Schritte hallen durch mein Wesen, und die Erde nimmt ihn sanft auf. In seinen Armen liegen zwei Kinder, klein und zerbrechlich, und doch umgeben von einer Kraft, die ich nur selten gespürt habe. Sie sind schwach, ihr Atem kaum mehr als ein Flüstern. Und doch… etwas in ihnen glüht, wie ein Funken, der eines Tages eine Flamme entzünden könnte.
Eldon hält sie, als wären sie das Kostbarste, was er jemals getragen hat. Ich lasse ihn passieren, stütze seinen Weg mit meiner Stille, schirme ihn ab, wo die Dunkelheit ihm zu nahe kommt. Aber weiter kann ich nicht. Meine Kraft bindet mich hier, wo ich den Wald und all seine Seelen beschützen muss – so gut ich es vermag.
Die Eltern dieser Kinder… Ich fühle ihren Schmerz, spüre den Kampf, den sie führen. Sie sind noch da, ihre Energie hell und stark, doch sie flackert. Wird ihre Stärke ausreichen, den Morgen zu sehen? Diese Antwort liegt nicht bei mir.
Ich weiß nur, dass diese Nacht erst der Anfang ist. Was hier geschieht, wird über den Wald hinausreichen. Ich bin nur ein Teil davon – ein Licht, das spendet, ein Schatten, der schützt. Mein Zweck bleibt derselbe: Ich gebe, was ich kann. Was daraus wird, liegt nicht in meinen Zweigen, sondern in ihren Händen.
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Der Eichenwald schien den Atem anzuhalten, während Eldon den Pfad nach Eichenhain hinabstieg. Er hielt die Kinder seiner engsten Freunde fest an sich gedrückt, in weiche Decken gehüllt, um sie vor der beißenden Kälte der Nacht zu schützen. Die Dunkelheit war ein schwerer Schleier, der jede Bewegung verschluckte. Düstere Silhouetten huschten über den Weg, begleiteten ihn wie stumme Wächter. Doch Eldons Schritte blieben sicher und entschlossen, sein Blick fest auf das Dorf gerichtet, das am Fuß des Hügels wie ein stummer Zeuge wartete.
Ein leises Wimmern brach die bedrückende Stille. Das kleinere Kind bewegte sich unruhig in seinen Armen. Eldon sprach leise, seine Stimme tief und beruhigend. „Hab keine Angst, Kleines. Bald seid ihr in Sicherheit.“ Der Wind verschluckte seine Worte, doch er ließ nicht nach, den Weg durch den finsteren Wald voranzutreiben. Zeit war ein Luxus, den er nicht besaß. Jede Sekunde zählte.
Die Luft schien aufgeladen, als ob der Wald die Gefahr, die in dieser Nacht lauerte, spürte. Die Äste der uralten Bäume bogen sich sanft, als wollten sie die Kinder vor der unsichtbaren Bedrohung abschirmen. Der Boden unter seinen Stiefeln gab leicht nach, als würde der Wald ihm den Weg ebnen. Ein leises Raunen durchbrach die Ruhe – eine Warnung, die sich kaum greifen ließ.
In der Ferne hallten Geräusche durch die Nacht – ein Knacken, gefolgt von einem dumpfen Grollen, das von einem fernen Kampf zeugte. Ein Schaudern lief Eldon über den Rücken. Er wusste, was dort geschah. Die Eltern der Kinder opferten sich, um ihnen diese eine Chance auf Überleben zu ermöglichen. Ein Stich durchzuckte sein Herz bei dem Gedanken, doch er schob ihn entschlossen beiseite. Sein Auftrag war klar, und er durfte nicht versagen.
Als der Wald sich lichtete, lag Eichenhain vor ihm. Das Dorf wirkte leblos, als hätte es sich unter der Last der grausamen Ereignisse zusammengezogen. Keine Menschenseelen waren zu sehen, kein Laut zeugte von Leben. Nur die Schatten, die still zwischen den Hütten lauerten. Eldon hielt inne und lauschte in die bedrückende Stille. Nichts regte sich. Doch er spürte, dass die Gefahr nicht fern war.
Die Laternen entlang des Weges flackerten kurz, für einen Moment war die Straße in vollkommene Schwärze getaucht. Dann stiegen winzige Lichter aus den alten Laternen empor, zitternd wie scheue Geister. Sie schwebten zögernd in die Luft, bis sie sich zu sammeln begannen, angezogen von einer verborgenen Quelle des Schimmers, die Eldon bei sich trug. Die kleinen Lichtkugeln scharten sich um das Schimmern, verschmolzen mit ihm und ließen es stärker erstrahlen, als ob sie ihm neues Leben einhauchten.
Eldon setzte seinen Weg fort, die enge Gasse hinab zu einem versteckten Haus am Rande des Dorfes. Zwei mächtige Eichen rahmten es ein, ihre knorrigen Äste wie Schutzwächter über das Dach gewölbt. Die Familie, die hier lebte, war keine verlässliche Wahl, doch sie war die einzige Möglichkeit, die Kinder vor dem drohenden Unheil zu bewahren.
Behutsam bettete Eldon die Kinder auf die Holzstufen vor der Tür. Ihre kleinen Gesichter, von Angst und Erschöpfung gezeichnet, wirkten so verletzlich, dass er zögerte, sie loszulassen. Aus den Falten seines Mantels kroch ein kleines Wesen hervor, nicht größer als eine Handfläche. Sein bernsteinfarbenes Fell schimmerte in einem sanften, goldenen Glanz, das eine beruhigende Wärme ausstrahlte. Anmutig, fast lautlos näherte es sich den Kindern. Vorsichtig legte es seine flauschigen Pfoten auf ihre kleinen Körper, als wollte es sie trösten. Sofort begann die Magie, sich auszubreiten, bis eine sanfte, beruhigende Aura die Kinder vollständig umhüllte. Der leuchtende Mantel nahm jede Spur von Angst und hinterließ friedliche Entspannung. Selbst die Dunkelheit hielt inne, wich ehrfürchtig zurück, als ob sie die Macht dieser magischen Energie spüren konnte.
Eldon zog ein kleines Stück Pergament aus seiner Manteltasche. Seine Finger zitterten leicht, als er es unter die Decke des älteren Kindes schob. Der sorgfältig formulierte Brief sollte den Zieheltern die Ernsthaftigkeit der Lage verdeutlichen. Prägnant, doch eindringlich.
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An die Hüter dieser Kinder,
die Umstände, die sie zu euch geführt haben, sind gefährlich und außergewöhnlich. Diese Kinder tragen das Vermächtnis von zwei der mutigsten Seelen, die ich je kannte. Ihre Rückkehr ist ungewiss, doch ihre Stärke lebt in den Kindern weiter. Diese Wahrheit mag schwer zu akzeptieren sein, doch sie gehört zu ihnen und darf ihnen nicht genommen werden.
Diese Kinder sind nicht wie andere. Ihr Dasein ist untrennbar mit dem Eichenwald und einer Geschichte verbunden, die weit über uns hinausgeht. Gebt ihnen ein gutes Zuhause und lasst sie in Frieden aufwachsen.
Nennt sie Finn und Lynn – Namen, die für Mut, Reinheit und ihre besondere Verbindung zur Natur stehen, getragen von der stillen Kraft des Lebens. Sie tragen eine besondere Bestimmung in sich, doch diese Zeit wird kommen, wenn sie bereit sind. Eure Aufgabe ist es, ihnen Sicherheit zu geben und sie vom Wald fernzuhalten, bis die Zeit reif ist. Es gibt Kräfte, die verborgen bleiben müssen, bis sie in der Lage sind, die Wahrheit zu erkennen. Vertraut darauf, dass ihr wisst, was zu tun ist, wenn die Stunde kommt.
Ein Freund
Der weise Mann verharrte einen Moment. Sein Blick wanderte von den Kindern zur fest verschlossenen Tür. Die Frau würde sie finden. Sie musste. Mit einem letzten, sorgenvollen Blick zog Eldon seinen Mantel enger um sich, das strahlende Licht verblasste, und das winzige Geschöpf verschwand lautlos in den Falten seines Gewandes. Eldon trat hinaus in die Dunkelheit.
Die Äste der uralten Eichen wiegten sich im Wind, als spürten sie seinen Abschied. Ihre Schatten verschlangen ihn, und Eldon verschwand, geräuschlos wie ein Schatten selbst. Noch war seine Aufgabe nicht beendet. Doch für diesen Augenblick hatten die Kinder eine Chance – und das war alles, was zählte.
Prolog- Zwischen Licht und Schatten
Kapitel 1 -Flüstern hinter verschlossenen Türen
Ein lautes Klopfen durchbrach die Stille und riss Lynn aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch, stieß sich beinahe an der schiefen Holzdecke und blickte sich verwirrt um. „Wacht auf, ihr Faulpelze!“ Tante Marlas scharfe Stimme drang durch die dünne Holzwand, gefolgt von einem weiteren heftigen Hämmern. „In fünf Minuten will ich euch draußen sehen!“
Ein leises Seufzen entwich ihr, während sie sich die Augen rieb. Das graue Licht der Morgendämmerung sickerte durch die Ritzen der Bretterwand, die kaum Schutz vor der klirrenden Kälte bot. Kleine Wolken formten sich vor ihrem Gesicht, als sie die dünne Decke enger um ihre Schultern zog. Ihr Blick wanderte zu ihrem Bruder.
Finn lag mit dem Gesicht zur Wand, den Kopf tief ins Kissen gedrückt. „Hörst du das nicht?“, fragte sie leise und stieß ihn leicht mit der Hand an den Arm.
„Ich höre es, ich ignoriere es“, murmelte er und zog die Decke noch weiter über den Kopf.
„Komm schon…“ Lynn versuchte es erneut.
Ein genervtes Stöhnen war die einzige Antwort, doch schließlich setzte er sich widerwillig auf. Sein zerzaustes Haar stand in alle Richtungen ab, während seine müden blauen Augen die Umgebung abtasteten. „Warum weckt sie uns überhaupt so früh? Cedric macht doch eh nichts.“
„Weil wir immer für alles verantwortlich gemacht werden“, entgegnete Lynn leise. Sie schob sich das dunkle Haar aus dem Gesicht, wobei ihre spitzen Ohren kurz hervorblitzten, bevor sie die Strähnen hastig wieder darüber zog. Der Reflex, sie zu verbergen, war tief in ihr verwurzelt – zu oft hatten die Dorfbewohner getuschelt oder sie verstohlen angestarrt.
Finn bemerkte die Geste und ballte die Hände zu Fäusten. „Es spielt keine Rolle, wie sehr wir uns anstrengen. Für sie werden wir immer anders sein.“
Seine kleine Schwester wollte etwas sagen, doch bevor sie auch nur ansetzen konnte, dröhnte die Stimme der Tante erneut durch die Wand: ‚Habt ihr mich verstanden? Los jetzt, raus mit euch!
Finn verdrehte die Augen und schwang die Beine über die Bettkante. „Eines Tages reicht’s mir“, murmelte er und zog seine abgetragenen Stiefel an. „Ich schwöre, eines Tages…“
„Wir haben keine Wahl“, unterbrach Lynn ihn ruhig, bevor er weitersprechen konnte. Sie legte ihm kurz eine Hand auf den Arm. „Mach dich einfach fertig.“
Mit einem missmutigen Brummen stand Finn auf, streckte sich und schob die Tür der kleinen Kammer auf. Die Kälte draußen drang noch deutlicher in den ohnehin kargen Raum, während die Geschwister sich schweigend auf den bevorstehenden Morgen vorbereiteten.
Kaum hatten die Geschwister die Kammer verlassen, traf sie die kalte Morgenluft wie ein Schlag ins Gesicht. Der Hof lag still im grauen Licht der Dämmerung. Der Boden war noch feucht von der Nacht, und ein paar Hühner pickten unbeeindruckt im Sand. Marla stand auf der Veranda, die Arme verschränkt, das Kopftuch schief auf dem Kopf. Ihre Augen musterten die beiden, scharf wie Messer.
„Da seid ihr ja endlich“, rief sie. „Der Brunnen wartet, und Cedric hat keine Zeit, euch zu helfen.“
Finn biss die Zähne zusammen, seine Hände zuckten leicht, doch er sagte nichts. Ein leises „Natürlich hat er keine Zeit“ rutschte ihm über die Lippen.
Marla drehte sich abrupt zu ihm um, ihre Augen verengten sich. „Was hast du gesagt?“, fauchte sie.
„Nichts“, entgegnete er knapp und richtete den Blick stur auf den Boden. Neben ihm regte sich Lynn, ihr Gesicht blieb ausdruckslos, doch sie trat unauffällig einen halben Schritt näher zu Finn, als wolle sie ihn daran hindern, etwas Unüberlegtes zu sagen.
Marla ließ ein verächtliches Schnauben hören, dann wandte sie sich ab. „Dann macht euch an die Arbeit!“ Ihre Worte klangen wie ein Befehl, bevor sie die knarrenden Stufen hinaufstieg und die Tür hinter sich zuknallte.
Noch bevor die Geschwister ihre Gedanken sortieren konnten, tauchte Cedric mit seinem gewohnten selbstgefälligen Lächeln auf. Er lehnte lässig an einem der Zaunpfähle, einen angebissenen Apfel in der Hand, und ließ seinen Blick über die beiden wandern. „Oh, seht mal, wer sich endlich aus seinem Loch getraut hat“, rief er spöttisch und biss lautstark in den Apfel.
Lynn atmete tief durch und warf ihrem Bruder einen warnenden Blick zu, bevor er reagieren konnte. „Cedric, lass es“, sagte sie mit ruhiger, aber fester Stimme.
Doch ihr Cousin, der erst vor wenigen Tagen seinen 15. Geburtstag gefeiert hatte, ließ sich davon nicht beeindrucken. „Was denn? Ich wollte nur höflich sein.“ Sein Grinsen wurde breiter, als er den Apfel in die Luft warf und lässig wieder auffing. „Ihr wisst, ich hätte das alles erledigen können. Aber ich wollte euch nicht den Spaß nehmen.“
„Danke für deine Rücksicht“, erwiderte Finn sarkastisch, seine Stimme vor Trotz schneidend.
Cedric zog eine Augenbraue hoch, seine Haltung plötzlich steifer. „Pass auf, was du sagst, Kleiner. Du bist hier nicht der Chef.“
Lynn sah, wie sich Finns Kiefer anspannte, und spürte, dass sein Ärger zu kochen begann. Sie trat unauffällig einen Schritt näher an ihn heran, um ein mögliches Wortgefecht zu verhindern. „Er ist es nicht wert“, flüsterte sie leise, mehr zu sich selbst als zu ihrem Bruder, doch ihre Worte schienen ihn nur halb zu erreichen.
Cedric grinste selbstzufrieden und warf den Rest des Apfels achtlos auf den Boden. „Kluger Junge“, sagte er spöttisch und richtete sich auf. „Egal. Ich hab Besseres zu tun, als hier mit euch meine Zeit zu verschwenden.“ Mit diesen Worten schlenderte er in Richtung Veranda zurück, wobei er seine Schritte absichtlich laut und langsam machte.
Als er außer Sichtweite war, ließ Finn endlich seinen Blick zur Erde sinken, seine Hände verkrampft an den Seiten hängend. „Warum müssen wir uns das immer gefallen lassen?“, murmelte er schließlich.
Lynn ignorierte die Frage und richtete ihren Blick stattdessen auf die alten Gerätschaften, die am Rand des Hofes lagen. „Wir verschwenden unsere Zeit mit ihm“, sagte sie, ihre Stimme flach vor Enttäuschung. Sie machte sich auf den Weg zu einem hölzernen Karren, dessen Rad schief stand, und begann, ihn in Richtung Brunnen zu schieben. „Wir haben genug zu tun.“
Finn folgte ihr, sein Ärger noch immer spürbar. Die Spannung hing schwer zwischen ihnen, doch weder er noch sie sprachen ein weiteres Wort. Cedrics Spott hallte in Lynns Gedanken wider, und sie fragte sich, wie lange Finn seine Wut noch zurückhalten konnte, bevor sie in einer Weise explodierte, die sie sich beide nicht leisten konnten.
Mit jedem knirschenden Schritt des hölzernen Wagens, den sie hinter sich herzogen, wuchs die Stille zwischen den Geschwistern. Die Straße ins Dorf war von Pfützen übersät, die das Rad immer wieder ins Stocken brachte. Das Knarren des Gefährts klang, als würde es gleich auseinanderfallen, doch Lynn hielt den Griff fest und zog unbeirrt weiter.
„Warum lässt du ihn immer durchkommen?“, durchbrach Finn plötzlich die Stille, den Blick auf den Weg gerichtet.
Lynn warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Ihre Stimme klang ruhig, doch die Müdigkeit war nicht zu überhören. „Weil es nichts bringt, sich mit ihm anzulegen. Das weißt du doch.“
Finn schnaubte leise. „Ja, aber irgendwann muss ihm jemand die Stirn bieten.“ Seine Worte klangen gereizt, und Lynn spürte, wie seine Frustration wie eine unsichtbare Last auf ihnen beiden lag.
Sie schwieg. Diese Diskussion war nicht neu, und sie wusste, dass es kein Ende geben würde, das Finn zufriedenstellte. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den holprigen Weg und zog weiter. Die kühle Morgenluft schien schwerer zu werden, während die Spannung zwischen ihnen unausgesprochen in der Luft lag.
Als sie den Marktplatz erreichten, begann das Dorf langsam, zum Leben zu erwachen. Händler errichteten ihre Stände, und leise Gespräche erfüllten die Straßen. Finn und Lynn zogen den Wagen bis zum Brunnen in der Mitte des Platzes. Die hölzernen Griffe des Brunnens knarrten leise, als Lynn den ersten Eimer füllte. Das Geräusch des sprudelnden Wassers vermischte sich mit dem Murmeln der Dorfbewohner.
Schon jetzt spürten sie die Blicke auf sich. Stimmen wurden gedämpft, sobald sie in der Nähe waren, nur um kurz darauf wieder lauter zu werden, als ob man wollte, dass sie es hörten.
„Schau mal, da sind sie wieder“, sagte eine ältere Frau, die sich zu ihrer Nachbarin beugte. „Die mit den seltsamen Ohren.“
Lynn hielt inne. Ihre Hände umschlossen den Rand des Eimers, und sie ließ den Kopf gesenkt. Ihre Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht und verbargen ihren Ausdruck.
„Hast du sie gestern gesehen?“, flüsterte eine andere, die Arme in ihre Schürze geschlungen. „Ich glaube, sie haben nicht mal Danke gesagt, als Marla ihnen was gegeben hat.“
„Manche Leute wissen nicht, was sie an ihrer Familie haben“, antwortete die erste mit einem süffisanten Lächeln.
Finn, der neben ihr stand, versteifte sich. „Hörst du das?“, zischte er leise. Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn.
„Lass es einfach“, flüsterte Lynn, ohne aufzusehen. Ihre Finger hielten den Eimer so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Doch Finn ließ nicht locker. „Warum sagen sie das? Sie wissen nichts über uns!“, murmelte er, seine Worte schwer vor Wut.
Lynn stellte den Eimer ab und legte eine Hand auf seine Schulter. Ihr Blick war ruhig, aber eindringlich, als sie ihn ansah. „Bitte“, sagte sie leise. „Lass es. Sie sind es nicht wert.“
Finn schloss für einen Moment die Augen, als ob er gegen den Drang ankämpfen müsste, etwas zu sagen. Schließlich stieß er hörbar den Atem aus. „Es ist so unfair“, murmelte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Die beiden füllten die Eimer weiter, doch die Blicke und das leise Getuschel verfolgten sie unaufhörlich. Es war, als würde die Last der Worte noch schwerer wiegen als die gefüllten Eimer, die sie zum Wagen trugen.
Der Geruch von feuchter Erde vermischte sich mit einer schweren Note von Alkohol, als die beiden den Hof betraten. Auf einem wackeligen Hocker saß Grimbor, die Schultern gebeugt, während er gedankenverloren den Inhalt seines Bechers betrachtete. Sein fleckiges Hemd hing lose an seinem Körper, und der rote Schimmer in seinem Gesicht verriet, dass er längst zu tief ins Fass geschaut hatte. Die Luft um ihn herum war so von Alkoholschwaden erfüllt, dass sie fast greifbar schien.
„Da seid ihr ja“, nuschelte er mit schwerer Zunge und hob den Kopf nur halb. „Habt ihr alles erledigt?“
„Ja, Onkel Grimbor“, antwortete Lynn ruhig. Ihre Stimme war kontrolliert, doch sie hielt Abstand, als ob sie fürchtete, der Geruch könnte an ihr haften bleiben.
„Gut“, murmelte er und nahm einen weiteren tiefen Schluck, ohne die beiden wirklich wahrzunehmen. Sein Blick glitt durch sie hindurch, als wären sie nicht mehr als Schatten, die durch den Hof zogen.
Finn öffnete den Mund, doch bevor ein Wort über seine Lippen kam, legte Lynn ihre Hand leicht auf seinen Unterarm. Der stumme Hinweis reichte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ihr Blick suchte den seinen, eindringlich und mahnend. Es war keine Zeit für eine weitere Auseinandersetzung.
Die knarrende Tür unterbrach die Stille. Marla trat auf die Veranda hinaus, die Arme fest an die Seiten gepresst. Ihr Blick war streng und durchbohrte die Geschwister, als würde sie jede ihrer Bewegungen auf Fehler abklopfen. Ihre Augen wanderten über die gefüllten Eimer, die neben dem Wagen standen, und ihr Gesicht verzog sich zu einer kritischen Miene.
„Hoffentlich habt ihr nicht getrödelt“, sagte sie in ihrem gewohnt scharfen Ton. „Ich habe keine Zeit, ständig auf euch zu warten.“
Finns Hände verkrampften sich um den Griff des Wagens, doch er biss sich auf die Lippen, um nichts zu sagen. Neben ihm hörte man Lynn, die mit einem leisen, aber deutlichen „Nein, Tante Marla“ antwortete. Ihr Tonfall war ruhig, fast unterwürfig, doch ihre Haltung blieb aufrecht, als wolle sie den Worten wenigstens ein bisschen Würde verleihen.
Marla ließ ihren Blick noch einen Moment auf ihnen ruhen, bevor sie ein verächtliches Schnauben von sich gab und sich abwandte. Ihre Schritte hallten auf den Holzdielen, als sie wieder ins Haus zurückging, die Tür hinter sich zuschmetternd. Der dumpfe Knall ließ die Spannung im Hof wie ein Echo nachwirken.
Grimbor, der die Szene ohne Interesse beobachtet hatte, senkte wieder den Kopf über seinen Becher. „Wenigstens seid ihr für was nützlich“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu ihnen, bevor er einen weiteren Schluck nahm.
Lynn wandte sich ab und griff nach einem der Eimer, ihre Bewegungen ruhig, aber mechanisch. Finn folgte ihrem Beispiel, sein Gesicht angespannt, doch er hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Die Last des Tages lag nicht nur in den gefüllten Eimern, die sie schleppten, sondern auch in der Kälte der Worte, die wie unsichtbare Ketten an ihnen zogen.
Die kalte Morgenluft schnitt scharf ins Gesicht, obwohl der Frühling längst begonnen hatte. Ein blasser Dunst lag über dem Hof, und der feuchte Geruch von Erde mischte sich mit dem leisen Gackern der Hühner. Das Mädchen zog ihren dünnen Mantel enger um sich, während sie einen Sack voller Körner zum Futtertrog schleppte. Die Kälte kroch durch die Ritzen ihrer Schuhe und ließ ihre Finger taub werden.
Nicht weit entfernt krachte die Axt auf Holz. Ihr Bruder arbeitete am schiefen Holzstapel, der neben ihm immer weiter wuchs, während er regelmäßig die schweren Scheite spaltete. Sein Atem hing in der klaren Luft wie kleine Wolken, die von seinen angestrengten Bewegungen rhythmisch zerstoben.
„Warum müssen wir das eigentlich immer machen?“, fragte Finn plötzlich und richtete sich auf, die Axt noch in der Hand. „Cedric hätte längst hier sein können, aber der sitzt bestimmt drinnen und stopft sich den Mund voll.“
Die Körner landeten im Trog, und Lynn wischte sich die Hände an ihrer abgetragenen Schürze ab. „Du weißt genau, warum. Er macht nur das, was ihm passt. Und Marla lässt ihn.“
„Das meine ich ja!“, rief der Junge und hob die Axt erneut, um den nächsten Scheit zu spalten. Der dumpfe Aufprall hallte durch den stillen Hof. „Warum können sie uns nicht einfach mal in Ruhe lassen? Wir machen eh schon alles!“
Ein widerspenstiges Huhn, das an Lynns Rocksaum zupfte, wurde beiseite geschoben. Kurz sah sie zu ihrem Bruder hinüber, während er das nächste Stück Holz bearbeitete. „Sie werden uns nie in Ruhe lassen. Für sie sind wir nur eine Last.“
Er ließ die Axt sinken und lehnte sich darauf, die blauen Augen vor unterdrücktem Ärger funkelnd. „Das weiß ich ja. Aber irgendwann reicht's. Ich meine… irgendwann muss doch mal irgendwas anders werden, oder?“
Ihre Bewegungen hielten inne, und ein Moment der Stille trat ein. Der Blick ihrer Augen ruhte kurz auf Finn. Sie wusste, dass er nicht nur wütend war – er war erschöpft. Erschöpft von den täglichen Arbeiten, den scharfen Worten und den abwertenden Blicken. „Wir haben uns“, sagte sie schließlich leise. „Das muss reichen. Für jetzt.“
Er schnaubte, richtete sich wieder auf und legte die Axt kurz beiseite. „Vielleicht. Aber ich lasse nicht zu, dass sie uns brechen.“
Eine Antwort blieb ihr verwehrt, als sich plötzlich die knarrende Tür des Hauses öffnete. Ihre Tante trat heraus und rief in scharfem Ton: „Beeilt euch, das Frühstück ist fertig. Ich werde nicht den ganzen Tag auf euch warten!“.........................................
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FINN und LYNN
Die Hüter des Eichenwaldes
Band1: Das Echo der Lumari
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Manuel Giesser
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